Verbale Gewalt an Kindern – wenn die Kinderseele weint

In meiner langjährigen Tätigkeit als Klinische- und Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin im Kinder, Jugendlichen und Familienbereich wurden mir die Auswirkungen der verbalen Gewalt an Kindern immer mehr bewusst.

Die verbale Gewalt zählt zur Form der psychischen Gewalt und ist die wohl am meisten verbreitetste und die in der Gesellschaft am wenigsten reflektierte Form der Gewalt. Bei der verbalen Gewalt sind nicht wie bei den unterschiedlichen Formen der physischen oder der sexuellen Gewalt äußerliche Verletzungen oder offensichtliche Spuren wie blaue Flecken, Fingerabdrücke, Ejakulationsrückstände usw. ersichtlich sondern, die emotionalen Narben befinden sich in der kindlichen Seele. Der verbalen Gewalt wird auch deshalb so wenig Aufmerksamkeit gewidmet, weil sehr vielen Menschen die Macht ihrer Worte kaum bewusst ist.

Viele Menschen messen ihren Worten und Zuschreibungen kaum Bedeutung bei. Dass jedoch Sätze wie „Du bist dumm“, „Das wirst du nie können“, „Aus dir wird nie etwas“, „Du bist eine Niete in …“, „Für das bist du zu …“, „Ich hab dich nicht mehr lieb“, tiefe Verletzungen in der kindlichen Seele und Auswirkungen auf den Selbstwert und das Vertrauen des Kindes haben, dürfte mittlerweile unumstritten sein. Solche und ähnliche Sätze finden wir nicht allzu selten im Alltag wieder. Diese werden häufig als „normales Erziehungsverhalten“ angesehen. Die meisten dieser Botschaften, die Eltern ihren Kindern weitergeben, geschehen unwissentlich und auch ohne böse Absicht. Aus Ärger oder Wut kann es vorkommen, dass Eltern solche Zuschreibungen gegenüber ihren Kindern tätigen. Bleiben diese Sätze Ausnahmen und ist eine gute Bindung und eine ansonsten liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kindern gegeben, so wird dies einem ansonsten seelisch stabilen Kind nichts ausmachen. Sind solche Zuschreibungen und Abwertungen jedoch täglicher Sprachgebrauch, so lassen diese die Kinderseele weinen und können negative Auswirkungen auf das gesamte weitere Leben des Kindes haben.

Verbale Gewalt gegenüber Kindern zeigt sich wie bereits erwählt in Zuschreibungen und Abwertungen, durch entwürdigende Bezeichnungen, öffentliches Demütigen, Bloßstellen, Drohen, Anschreien, Anbrüllen, Anfauchen, einschüchternde oder entmutigende Worte, Einjagen von Furcht, Entwertungen und häufiges Tadeln. Die Negation von Gefühlen, immer wiederkehrende Schuldzuweisungen, Anklagen, das Bagatellisieren oder Banalisieren, das Leugnen oder auch das „zufällige“ Vergessen sowie Befehle und verletzende Witze oder Scherze zählen zu den Formen der verbalen Gewalt.

Vielfach verwenden Eltern diese Methoden basierend aus der alten Tradition des autoritären Erziehungsstils heraus. Häufig weil sie selbst so erzogen worden sind und es einfach nicht anders kennen oder weil ihnen Alternativen fehlen und ihr Bezugsrahmen nicht erweitert wurde. Weil sie überfordert sind und aus ihrer erzieherischen Unfähigkeit heraus nicht anders handeln können. Leider kommt es auch vor, dass Eltern bewusst die Abhängigkeitsbeziehung ihrer Kinder ausnützen und in ausbeuterischer Weise ihre Macht als Erwachsener den Kindern gegenüber einsetzten. Eltern, die die verbale Gewalt als Form der Konfliktlösung sehen. Bei älteren Kindern und Jugendlichen wird die Form der verbalen Gewalt häufig als Mittel, um Machtkämpfe zwischen ihnen und ihren Eltern auszutragen, verwendet.

Die Folgen der verbalen Gewalt können vielfältig sein. Eine Studie des Erziehungswissenschaftlers Holger Ziegler (2013) zeigt in Bezug auf verbale Gewalt, dass von 900 Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und einschließlich 16 Jahren ein Viertel davon berichte, von Erwachsenen als „dumm“ oder faul“ beschimpft worden zu sein (25,1%). Ein Fünftel gab an, dass Erwachsene ihnen das Gefühl geben, weniger wert zu sein als andere junge Menschen (21%) – (Kinder 16%, Jugendliche 26%). Die Studie ergab, dass sich die verbalen Missachtungserfahrungen deutlich – und auch stärker als körperliche Gewalterfahrungen – auf das Ausmaß von emotionalen Problemen, das Wohlbefinden, das Selbstvertrauen sowie die Selbstwirksamkeitserfahrungen junger Menschen auswirken.

Körperlich-kognitive Entwicklungsstörungen zeigen sich vor allem im sprachlichen Bereich der Kinder. Häufig in Form von Problemen in der Aussprache wie dem Lispeln, Stottern oder auch in Wortwiederholungen, Einkoten oder Einnässen sowie diverse andere körperlich auffallende Erscheinungen. Mangelnde Schulleistungen, Leistungsschwächen, die häufig die verbalen Auseinandersetzungen zu Hause erneut verstärken. Verhaltensprobleme, Zwangs-, Angst- und Persönlichkeitsstörungen, aggressives Verhalten, Depressionen, Schlafstörungen, Essprobleme wie Magersucht, die Unfähigkeit zu Vertrauen bis hin zum Rückzug, Mord oder Selbstmord sind Folgen anhaltender verbaler Gewalt. (vgl. www.violencestudy.org, www.kinderschutz.ch)

Mit Hilfe der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) und der Sprache der Transaktionsanalyse, mit der Grundsatzeinstellung „Ich bin o.k und du bist o.k“ können Eltern und Bezugspersonen Wege finden, um das Miteinander mit ihren Kindern in Respekt, gegenseitiger Wertschätzung und vor allem im Erkennen der eigenen Bedürfnisse und dem Erkennen der Bedürfnisse der Kinder zu leben. Die GfK begann sich Anfang der 60er Jahre durch Marshall Rosenberg zu entwickeln. Die vier methodischen Schritte, welche die Grundlage der GfK bilden, sind: die Beobachtung, das Gefühl, das Bedürfnis und die Bitte! (vgl. Gaschler, 2007, S. 26)

Die Beobachtung soll sich rein auf das Faktische beziehen und frei von Bewertungen, Urteilen, Vergleichen und Interpretationen wie „Du bist unartig!“ oder „Nie räumst du dein Zimmer auf!“ oder „Du bist zu faul, den Müll runterzutragen!“ sein. Die Beobachtung beschreibt eine konkret beobachtbare Tatsache und gibt diese wieder als Basis des gegenseitigen Verständnisses wie: „Du hast gesagt, du findest das Essen nicht gut!“ oder „In deinem Zimmer liegen deine Puppen und Puppenkleider am Boden verstreut!“ oder „Der Mülleimer ist bis zum Anschlag voll!“. Die Beobachtung, über die gesprochen werden soll, wird benannt! (vgl. Gaschler, 2007, S. 35ff)

Das Gefühl ist körperlich spürbar und wenn wir uns „gut“ fühlen, dann wissen wir, dass die für uns wichtigen Bedürfnisse erfüllt sind. Hart & Hodson (2007) haben in ihrem Buch: „Respektvoll miteinander leben“ eine Liste von Gefühle angeführt. So zählen zu jenen Gefühlen, wenn Bedürfnisse erfüllt sind unter anderem folgende: behaglich, satt, zufrieden sicher, erholt, entspannt, neugierig, froh, glücklich, hoffnungsvoll, dankbar, friedlich, ruhig, klar, offen, unternehmungslustig, inspiriert. Unter den Gefühlen, wenn Bedürfnisse nicht erfüllt sind zählen sie: unwohl, angespannt, unsicher, erschöpft, uninteressiert, nervös, besorgt, verwirrt, wütend, zornig, verärgert, enttäuscht, ängstlich, besorgt, blockiert. (vgl. Hart & Hodson, 2007, S. 100) Über Gefühle muss man wissen, dass jeder für seine Gefühle selbst verantwortlich ist! Eine Handlung eines Anderen kann zwar Auslöser für bestimmte Gefühle sein, jedoch niemals die Ursache dessen. Leider wird dies in der Kindererziehung immer wieder vergessen und so wird bereits von Eltern manipulative Gefühlsarbeit betrieben wie z.B. mit Aussagen wie: „Jetzt bin ich aber traurig, weil du dein Zimmer nicht aufgeräumt hast!“ oder „Ich bin sauer, weil du den Müll nicht runter getragen hast!“ und somit den Kindern etwas total Falsches suggeriert wird – nämlich, dass jemand Anderer über die eigenen Gefühle bestimmt! Um hier auszusteigen empfiehlt, sich folgende Umformulierung: Aus „Ich bin …, weil du …!“ wird „Ich bin …, weil ich… brauche!“ (vgl. Gaschler 2007, S. 38ff)

Hinter allem, was wir tun, steht ein Bedürfnis. Frank und Gundi Gaschler bezeichnen es als Motor, als Triebfeder des Tuns. Lt. Marshall Rosenberg gibt es sieben große Kategorien von menschlichen Bedürfnissen. Diese sind das Bedürfnis nach Verbindung, Aufrichtigkeit, Spiel, Friede, physisches Wohlbefinden, Sinnhaftigkeit und das Bedürfnis nach Autonomie. Wesentlich ist, dass die Eltern ihre eigenen Bedürfnisse erkennen, wahrnehmen, diese beachten und erfüllen, um auf Dauer die Kraft und Energie zu haben, sich um die Bedürfnisse ihrer Kinder zu kümmern.

Bei der Bitte soll beachtet werden, dass sie zum eigenen Bedürfnis passt, positiv und konkret formuliert wird, erfüllbar ist und ein „Nein“ offen lässt. Um sicherzugehen, dass das Kind die Bitte verstanden hat, wird empfohlen, mit einer Verständnissbitte nachzufragen! Diese könnte folgendermaßen lauten: „Es ist mir wichtig, dass du das, was ich sagen will, auch richtig verstanden hast. Kannst du mir mit deinen eigenen Worten nochmal sagen, was du gerade gehört hast?“

Die GfK kann von Beginn, also von Geburt an kommuniziert werden, denn wenn Kinder in einem Umfeld aufwachsen, in welchem Gefühlsäußerungen und Bedürfnisbegriffe zum täglichen Wortschatz gehören, dann wird das Kind diese mit zunehmenden Spracherwerb am Vorbild lernen. Bevor dem so ist, können Eltern die nonverbale Kommunikation nützen, um die Sensibilität ihrer Kinder zu fördern und mit ihnen so in guten Kontakt treten. (vgl. Gaschler, 2007, S. 41ff)

Dass natürlich auch in der Erziehung Regeln, Grenzen und Konsequenzen wesentlich sind, vor allem in Situationen, in den Gefahr droht, steht außer Frage. Ebenso sollen Werte und soziale Regeln vermittelt werden welche in jener Gesellschaft, in welcher die Familie lebt, ihre Gültigkeit hat. Sie sind Maßstäbe zur Orientierung des eigenen Handelns und werden von Eltern, Lehrer, Nachbarn, Gleichaltrigen, Medien usw. vorgelebt. Ein konkretes Beispiel für Werte und Regeln zur Veranschaulichung könnte sein z.B.: Werte: Gesundheit. Regel: Am Abend putzt du dir vor dem Schlafengehen die Zähne. (vgl. Hahn, 2007, S. 39ff)

Grundsätzlich ist zu sagen, dass wir alle danach streben unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Geschieht dies mit gegenseitigem Respekt, Verständnis und Wertschätzung so steht einem positiven Zusammenleben nichts mehr im Wege. Würden wir alle mehr bedingungslose Zuwendung geben so könnten die Narben der verbalen Gewalt die tief in unseren Seelen schlummern schneller heilen.

Literaturliste:

  • Gaschler F. und G. (2007): Ich will verstehen was du wirklich brauchst. Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern. Kösel Verlag. München.

  • Hahn B. (2007): Ich will anders, als du willst, Mama. Kinder dürfen ihren Willen haben – Eltern auch. Erfahrungen mit der Anwendung der GFK in der Familie. Junfermann Verlag. Paderborn.

  • Hart S. & Hodson V.K. (2007): Respektvoll miteinander leben. 7 Schlüssel zur Konfliktlösung. Wie Eltern und Kinder mithilfe der Gewaltfreien Kommunikation Konflikte in Kooperation umwandeln können.

Internetliteratur:

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